Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, geehrte ZuhörerInnen!
Viele von Ihnen wissen, dass ich aus Oranienburg stamme und über die Hälfte meines Lebens in dieser vom Krieg und vom KZ Sachsenhausen gezeichneten Stadt verbracht habe. Es ist etwa 40 Jahre her. Da bat mich ein sowjetischer Offizier am Bahnhof Oranienburg, ihn zu seiner Garnison zu fahren. Wir hielten außer Sichtweite des KPP, des Kontrollpassierpunktes, und kamen ins Plaudern.
Er fragte mich wie ich das finde, dass so lange nach Kriegsende noch sowjetische Truppen hier stationiert seien. Ich antwortete ihm, dass ich sie zwar lieber in Zivil sähe. Aber ich wisse natürlich auch, warum sie hier seien. Schließlich wären zuerst deutsche Truppen – ohne Einladung – in die SU eingefallen. Und ich sagte ihm, dass ich es gerne sähe, wenn unsere Kinder gemeinsam in die Schule gehen und miteinander und voneinander lernen könnten. Da antwortete er mir; „Das geht nicht, ihr seid unsere Feinde!“ Und setzte sofort hinzu: „Das hätte ich Ihnen nicht sagen dürfen…Aber ich habe etwas zu viel getrunken – morgen ist doch der 7. November!“ Damit war das Gespräch beendet.
Mich hat dieser Satz tief verletzt. Dieser Soldat wollte nicht Feind sein – aber er musste es. Ich hatte einmal zu den Feinden gehört – aber ich war es längst nicht mehr.
Heute früh sah ich wieder die Osterglocken an der Poelchaustraße/Ecke AdK blühen. Sie blühen dort seit mindestens 19 Jahren. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Soldaten, die diese Osterglocken bzw. ihre Zwiebeln in die „deutsche“ Erde senkten. Es war ihr Abschiedsgruß 1994. Die „deutsche Erde“ war nicht mehr Feindesland sondern zweite Heimat für viele Offiziers-Familien geworden. Manche blieben sogar hier.
Diese Soldaten waren Kinder und Enkel der Rotarmisten, die 50 Jahre früher, am 21. Oktober 1944 als Sieger deutschen Boden betreten hatten – bis dahin hatten sie unter großen Verlusten ihre Heimat von deutschen, ungarischen, französischen und anderen Vasallen-Truppen befreit. Auf den Tag genau ein halbes Jahr später, am 21. April 1945 betraten sie hier Berliner Boden.
In den Morgenstunden dieses 21. April 1945 waren 33.000 Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen auf den Marsch nach Westen getrieben worden. Noch am selben 21. April befreiten sowjetische und polnische Soldaten die verbliebenen 3.000 Häftlinge.
Kürzlich musste ich eine fast 80-jährige Freundin aus der Zeit der Jungen Gemeinde beerdigen. Sie war als 11-jähriges Mädchen mit ihren Eltern auf der Flucht in den Zug der aus dem KZ Sachsenhausen getriebenen, von der SS bewachten Häftlinge geraten. Damit gerieten sie auch in das Bomben- und Kanonenfeuer sowjetischer Flugzeuge, die keinen Unterschied machten zwischen den gefangenen Opfern der Nazis, den Bewachern und der flüchtenden Bevölkerung. Ihr Vater wurde erschossen. Was sie an Vergewaltigungen erlebt hat und mit ansehen musste hat sie nicht erzählt; aber ihre seelischen Wunden heilten nie. Heute sind es nur noch wenige alte Frauen, die die Last dieser Massenvergewaltigungen tragen. Aber manche seelische Verwundungen wurden vererbt.
Immer wieder findet man die Behauptung, es habe einen Befehl zur Vergewaltigung deutscher Frauen gegeben. Besonders Ilja Ehrenburg, dem jüdischen Schriftsteller und Politoffizier der Roten Armee wird ein Aufruf zugeschrieben, indem es heißen soll:
„Tötet, ihr tapferen Rotarmisten, tötet…
Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen, nehmt sie als rechtmäßige Beute.
Tötet, ihr tapferen Rotarmisten, tötet.”
Dieser Aufruf ist nirgends belegt. Er stammt aus der deutschen Nazi-Propaganda. Ilja Ehrenburg selbst schrieb in seinen Memoiren zwanzig Jahre später:
Man kann sagen: Ein schlechtes, hässliches Gefühl. Ja, gewiss. Auch mir war der Hass nicht leicht gefallen, er ist ein grauenhaftes Gefühl: Er macht innerlich kalt. […] Die Jungen von heute werden
kaum begreifen, was wir durchgemacht haben. Jahre der totalen Verdunkelung, Jahre des Hasses, ein bestohlenes, verunstaltetes Leben. (Wikipedia)
Dies ändert nichts an der Tatsache der furchtbaren Rache sowjetischer und auch französischer Männer an deutschen Frauen. Aber auch befreite Zwangsarbeiterinnen, ja KZ-Häftlinge wurden von ihren „Befreiern“ vergewaltigt, so wie deutsche Soldaten und Zivilisten und ihre Helfershelfer aus anderen Nationen sich an den Frauen der besetzten Länder vergingen.
Heute früh sah ich wieder die Osterglocken an der Poelchaustraße/Ecke AdK blühen. Ich wünsche den Menschen der ehemaligen Sowjetunion, dass sie einen Tag der Befreiung und nicht nur des Sieges feiern können!
Aus Feindschaft, Hass und Verbitterung kann Freundschaft, Zuneigung und Frieden werden.
Ich danke denen, die uns befreit haben!
von Ernst-Gottfried Buntrock
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