Mein Bezirkstag in Marzahn-Hellersdorf am 3.März 2016
Es ist ein ziemlich kühler Morgen. Nach einem Frühstückstermin im Bundestag geht es „raus in den Osten“. 43 Minuten Fahrt von der Mitte an den Rand der Stadt. Das geht nur in Berlin. Ich freue mich auf Stefan Ziller vom Kreisvorstand und die vielen Mitglieder und Fraktionär*innen vor Ort, die mit mir den bündnisgrünen Bezirkstag verbringen werden. Er verläuft anders als erwartet.
Eine Kulturoase im Plattenbaubezirk
„Wir bauen jetzt noch drei weitere Veranstaltungsräume. Da ist der Bedarf groß hier in Marzahn“, meint Peter Kenzelmann, der neue Besitzer der Alten Börse Marzahn. Vielleicht auch, weil sie mit alten Backstein, Putz und Holzbalken wie das Gegenprogramm zu der Architektur wirken, für die Marzahn-Hellersdorf berühmt-berüchtigt ist: für weit gestreckte Plattenbausiedlungen.Die Alte Börse ist dagegen ein Backsteinkomplex aus dem 19.Jahrhundert: hier fanden früher Tierauktionen statt. Jetzt befindet sich hier ein Restaurant, der Club Czar Hagestolz und etliche Künstlerwerkstätten. Darin arbeiten auch Künster*innen, die früher im Tacheles in Berlin-Mitte aktiv waren. Die lauten Handwerksarbeiten kollidieren allerdings manchmal mit dem Lärmschutz für die rundum entstehenden Eigenheime. Kenzelmann stellt sich darauf ein.
„Wir haben die lauten Veranstaltungen alle nach ganz hinten verlagert, vorne finden dagegen Veranstaltungen wie Lesungen statt.“ Die Räume stellt Kenzelmann Künstler*innen kostenlos zur Verfügung, wenn sie die Organisation und das Marketing für die Veranstaltung selbst übernehmen. Denn es ist sein Traum, hier in Marzahn eine Kulturoase zu schaffen. Für den Marzahner bündnisgrünen Abgeordneten Stefan Ziller hat er damit schon etwas gegründet, was viele vorher in Marzahn für unmöglich hielten.LiMa+ liegt in Marzahn Ebenfalls auf dem Gelände der Alten Börse hat sich das Online-Bezirks-Journal LiMa+ – kurz für LichtenbergMarzahnPlus – angesiedelt. Mein Besuch im Rahmen des Bezirkstages dort sorgt erst einmal für leichte Verwunderung: „Das machen aber nicht alle Berliner Bundestagsabgeordnete, oder?“, meint Herausgeber Volkmar Eltzel. Journalistin Birgitt Eltzel war lange für die Berliner Zeitung tätig. Ihr Ideal ist unabhängiger Journalismus über bezirkliche Themen, die in den Printzeitungen kaum mehr Raum finden.
So berichtet LiMa+ über die neuen Fahrradkabinen in der Testphase, über gelungenen oder auch gescheiterten Stadtumbau, über die Betreuung von Flüchtlingskindern durch eine Grundschule, aber auch über rechtsextreme Übergriffe. LiMa+ hat 120.000 Zugriffe im Monat und ist in Marzahn und Lichtenberg ein Begriff. Die Anzeigen decken die Betriebskosten, aber ohne Selbstausbeutung geht es noch nicht. Demnächst wird LiMa+ aber mit dem Bezirksjournal zusammenziehen und auch kooperieren. Und da gibt es dann hoffentlich kostensparende Synergieeffekte.
Netzwerk Alleinerziehende Marzahn-Hellersdorf
Kooperation ist auch für das Netzwerk-Alleinerziehende in Marzahn-Hellersdorf zentral. Mich interessierte, wie es das Netzwerk geschafft hat, so erfolgreich vernetzt zu sein. Annett Dubsky ist die treibende Kraft beim Netzwerk Alleinerziehende. Kommunikation, eine positive Grundstimmung und Verlässlichkeit sind ihre Antworten, um lösungsorientiert arbeiten zu können.Zu lösen sind viele Dinge, die mit der hohen Zahl der Alleinerziehenden in Marzahn-Hellersdorf zu tun haben. 47 % der Haushalte sind es, viele davon haben zwei oder mehr Kinder, viele sind Geringverdiener*innen oder ganz auf Transferleistungen wie Hartz IV angewiesen.
Das ist so überdurchschnittlich viel, dass Bezirksamt und Jobcenter meinten, wir bekommen das ohne spezielle Hilfestruktur nicht in den Griff. 2011 wurde das Netzwerk Alleinerziehende als Modellprojekt gemeinsam entwickelt und ins Leben gerufen. Glücklicherweise gab es zu dieser Zeit Fördergelder beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die sich dafür abrufen ließen. So konnte das Netzwerk in der ersten Zeit an der Analyse und dem Aufbau von sinnvollen Strukturen arbeiten. Dieser nachhaltige Ansatz zahlt sich heute aus.
Es fehlt am Selbstbewusstsein und niedrig-schwelligen Angeboten
Die eine Erkenntnis ist: gut qualifizierte Alleinerziehende kommen mittlerweile wieder schnell in Arbeit. Angesichts des Fachkräftemangels haben sich Arbeitgeber*innen anscheinend gewandelt.
Die andere Erkenntnis: Wenn es nicht klappt, kommt häufig vieles zusammen. Neben der Arbeitslosigkeit gibt es noch alte Schulden, neben der Überforderung z. B. durch die Kinder und den Alltag auch psychische Probleme. Um da etwas zu bewegen, muss von mehreren Seite angesetzt werden.
Niedrigschwellige Angebote sind wichtig. Cordula Streich, Spitzenkandidatin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Marzahn-Hellersdorf, berichtet vom Stadtteilmütter-Projekt, das endlich auch in diesem Bezirk etabliert werden soll. Das hat die bündnisgrüne Fraktion in der Bezirksversammlung angeregt. Die Stadtteilmütter und -väter werden ein halbes Jahr ausgebildet und besuchen dann die Familien zuhause: sie beraten und motivieren. Dieses Modell ist in Neukölln und anderen Berliner Bezirken sehr erfolgreich. Ein großes Erfolgsinstrument des Netzwerkes Alleinerziehende ist die Ausbildungs- und Arbeitstour zu Arbeitgebern im Bezirk, die Arbeitskräfte suchen. Da gelingt es, den Alleinerziehenden mit oft sehr geringem Selbstbewusstsein eine konkrete Perspektive zu geben, und Vorbehalte von Arbeitgeber*innen gegen die häufig Langzeitarbeitslosen abzubauen. Manchmal klappt es dann sogar ganz spontan mit der Jobvermittlung.
Kinderbetreuung ist ein Knackpunkt
Ein riesiges Problem in Marzahn-Hellersdorf sind die fehlenden Kitaplätze. Obwohl in den letzten Jahren 1000 neue dazugekommen sind, frisst der Zuzug alles auf. Tagesmütter werden – vielleicht auch wegen der anderen DDR-Tradition – schlechter angenommen. Das macht die Arbeitsplatzsuche für die Alleinerziehenden natürlich schwerer. Insbesondere, da die meisten in klassische Frauenberufe wie Gastronomie, Krankenpflege oder Verkauf streben. Nur leider sind gerade in diesem Bereich Schichtdienste normal. Und ebenso normal ist, dass diese Arbeitgeber keine Betriebskitas haben. Ich nehme mir vor, möglichst bald einen Brief an REWE, Edeka, Aldi und Lidl zu schreiben und zu fragen, warum sie immer noch keine Betriebskitas haben.
Kleiderkammer
Weiter geht es zu „Jahresringe e.V.“. Der Verein organisiert seit Herbst 2015 eine Kleiderkammer in der Bitterfelder Straße. Die Spendenannahme und –ausgabe läuft ausgesprochen gut. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass es ganz in der Nähe zwei Flüchtlingseinrichtungen gibt. 75 % derjenigen, die sich Kleidung abholen, sind Geflüchtete, der Rest sind andere Bedürftige wie beispielsweise HartzIV-Empfänger*innen.An Spenden mangelt es nicht. Anfangs dachte Frau Starostzik vom Trägerverein noch, sie müssten die Abholung der Kleidung bei den Spender*innen organisieren. Doch das erwies sich als falsch – die Marzahner*innen spendeten mehr als genug und das gut organisiert. Häufig wurde bei der Arbeit – beispielsweise in der Polizeidienststelle – Altkleidung gesammelt und diese dann zusammen abgegeben.
Reichliche Spenden
Betrieben wird die Kleiderkammer durch 8 MAE-Kräfte: also durch Mehraufwand-Ausgleichs-Ersatzkräfte. Einige können gut nähen und reparieren gespendete Kleidung. Was fehlt, sind etwa kostenlose Fahrkarten. Geplant wird jetzt auch ein Projekt von Menschen mit Behinderungen, die mit Flüchtlingskindern basteln sollen. Ich frage, ob es auch Möglichkeiten gibt, dass Flüchtlinge selbst etwas tun können: dass sie beispielsweise selbst die Verteilung des Essens übernehmen. Die Idee scheint in Marzahn-Hellersdorf noch kein Gehör gefunden zu haben. Aber Frau Starostzik gelobt nachzufragen.
Die Marzahn-Hellersdorfer Wirtschaftskreis – MHWK
Bei den Wirtschaftsvertreter*innen in Marzahn-Hellersdorf ist man erstmal voll des Lobes für das pragmatische Bezirksamt. Die Zusammenarbeit sei sehr gut, man werde gehört, die Wirtschaftsentwicklung sei positiv, das deutlichste Zeichen der Cleantechpark, der gerade eröffnet worden ist.Auch bei Wohnungen ginge es voran, der Leerstand betrage nur noch 0,7%: gerade noch soviel, wie man für Umzug und Renovierung brauche. Deshalb seien jetzt Grundstücke für Neubauten das große Thema. Ein Wirtschaftsvertreter beklagt die Inflexibilität der Berliner Immobiliengesellschaft BIM. Das dort einiges im Argen liegt, ist nicht verwunderlich. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass Grundstücke und Häuser nicht nur für Wohnungen und Neubau, sondern auch für die soziale Infrastruktur bereitgestellt werden müssen.
Wohnungsleerstand in Marzahn gibt es nicht mehr
Vertreter von Wohngenossenschaften bemerken, dass ihnen die Steuersonderabschreibung für den Wohnungsbau wenig bringt. Was sie gerne hätten, wären Ausnahmen bei den Bauvorschriften für die nächsten drei Jahre. Ich erläutere, dass man über manches reden könne, aber über Lockerungen bei der energetischen Sanierung aus grüner Perspektive sicher nicht. Denn da selbst Behelfsbauten mindestens 50 Jahre in Benutzung sein sollen, rechnet sich eine energetische Sanierung allemal – vom Klimawandel ganz zu schweigen.
Unmut über das Schulsystem
Großer Unmut bei vielen Wirtschaftsvertreter*innen herrscht dagegen beim Bildungssystem. Die Schulabgänger*innen kämen mit immer weniger Kenntnissen in die Ausbildungsberufe. Einer berichtet, sie könnten als Vermessungstechniker nur noch Abiturient*innen einstellen, da die MSAler alle den Satz des Pytagoras nicht beherrschten. Für den MHWK ist vor allem der riesige Stundenausfall und Lehrer*innenmangel daran schuld.
Beim Lehrer*innenmangel gebe ich ihnen Recht. Um die Versäumnisse aufzufangen, vor allem Kinder aus nicht-bildungsbürgerlichen Verhältnissen, muss vor allem die Grundschule gut ausgestattet sein. Hier hat die Berliner Schulverwaltung eklatant versagt. Die Pensionierungswelle war auch ohne Zuzug vorhersehbar und trotzdem hat die Schulsenatorin darauf verzichtet, Ausbildungsplatzzahlen für Grundschullehrer*innen in die Hochschulverträge zu schreiben. Das ist hausgemachtes Politik- und Verwaltungsversagen.
Alice-Salomon-Hochschule
Leider geht es mit einem ähnlichen Tenor gleich an der Alice-Salomon-Schule weiter. Der neue Rektor, Prof. Dr. Uwe Bettig, berichtet, alle drei Berliner Hochschulen hätten Ende letzten Jahres einen Brief an die Hochschulsenatorin geschrieben. Sie könnten angesichts der hohen Flüchtlingszahlen sofort ihre Kapazitäten für speziell ausgebildete Pädagog*innen um 60 Plätze pro Semester aufstocken. Leider kam erst mit Monaten Verspätung eine Reaktion mit dem Angebot eines Gesprächstermins. Bei diesem Reaktionstempo ist schnelle Integration natürlich kaum möglich.An der Alice-Salomon-Hochschule studieren jetzt 3500 Studierende. Sie werden zu Pädagog*innen insbesondere im Bereich soziale Arbeit ausgebildet. In den letzten zehn Jahren hat die ASH ihre Ausbildungskapazitäten fast verdreifacht – damit ist sie mit ihren Räumen, Lehrkräften und Verwaltung an ihrer Kapazitätsgrenze. Doch der Arbeitsmarkt reißt ihnen die vielseitig ausgebildeten Pädagog*innen fast aus den Lehrsälen. Durch den Ausbau der Ganztagsschulen und Kitas ist hier in den letzten Jahren eine enorme Nachfrage entstanden.
Aber die Student*innen zeigen deutlich, dass sie sich darauf nicht ausruhen wollen. Auf studentische Initiative ist eine AG Nachhaltigkeit entstanden, mit dabei Inka Seidel, junge Kandidat*in für das Abgeordnetenhaus. Hier wird darüber nachgedacht, wie man das Thema anschaulich in den unterschiedlichen Lehrbereichen unterbringen kann. Es gibt mittlerweile einen Nachhaltigkeitsbeauftragten, eine halbe Tutorenstelle, eine Professur für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), eine Fokuswoche, mehrere Seminare und
eine Lehrveranstaltung zur Integration des Themas in die Studiengänge.
Da ergänzt Bernadette Kern von der bündnisgrünen BVV-Fraktion gerne, dass Marzahn-Hellersdorf jetzt nach jahrelangem grünem Drängen auch einen Klimabeauftragten für den Bezirk hat, der dort unter anderem den Ressourcenverbrauch in der Verwaltung ins Auge fasst.
Griechenland als Schuldenkolonie
Abschluss des Bezirkstages beim grünen Kreisverband in Marzahn-Hellersdorf. Ich berichte den Stand der Dinge zum Thema Griechenland, zur Euro- und zur Flüchtlingskrise. Dieses Thema hatten sich die Kreisverbandsmitglieder selbst ausgesucht, was mich freut. Als gelernte Volkswirtschaftlerin habe ich mich schon in meinem Studium viel mit der EU und ihrer Wirtschaftspolitik beschäftigt. Deshalb ist die Eurokrise und jetzt auch die Krise der EU ein Thema, das mich schon seit Jahren umtreibt. Meine These ist, dass Griechenland durch das sogenannte Strukturanpassungsprogramm immer noch tiefer in die Krise hineingerutscht ist. Mittlerweile hat selbst die Chefin des IWF, Christine Lagarde, zugegeben, dass das Programm falsch war. Der IWF habe Griechenland zu stark eingeschätzt. Das Programm sei das härteste gewesen, dass der IWF je in irgendeinem Land durchgezogen habe.Auch durch das dritte Griechenlandpaket sehe ich keine Perspektive für eine wirtschaftliche Erholung Griechenlands. Denn es gibt keinen Schuldschnitt – in drei Jahren wird das Land wieder doppelt so hohe Schulden haben wie jetzt, allein durch die Zinsen. Solange die Perspektiven so sind, wird weiter kein Investor in Griechenland investieren. Dabei braucht das Land dringend ein nachhaltiges Investitionsprogramm, um wieder auf die eigenen Beine zu kommen.
In der anschließenden regen Diskussion geht es natürlich auch um die Flüchtlingskrise. Ob sie Griechenlands Verhaltungsspielraum stärkt oder ob Griechenland damit kalt aus dem Schengenraum geschmissen worden ist? Auch um die Frage, wie berechtigt die Reparationsforderungen sind und um neue oder alte Regeln für den Euro geht es. Ich bin der Meinung, dass wir die Regeln für den Euro ändern müssen, wenn wir ihn erhalten wollen. Wir müssen entweder investieren, um die auseinanderstrebenden Länder zusammenzuhalten. Dann braucht es eine Ausgleichsunion in der europäischen Union. (Die USA beispielsweise hat 25% des Staatshaushaltes im Länderausgleich, um die unterschiedliche Finanzkraft der US-Bundesstaaten auszubalancieren.) Oder wir müssen akzeptieren, dass der Euro über kurz oder lang auseinanderfliegt, wenn wir diese Investition nicht machen wollen.
Ein angenehmer Abend schloss den anregenden Tag in Marzahn-Hellersdorf ab. Vor Ort dominieren viele sozialpolitische Fragen. Ebenso der Wunsch des Kreisverbandes, sich doch lieber erst einmal im Bezirk Informationen einzuholen, bevor man Marzahn-Hellersdorfer Verhältnisse aus Mitte-Perspektive laut kritisiert. Das nehme ich auf jeden Fall mit. Besten Dank an Stefan Ziller und das Team vor Ort. Es gab viel Neues im Osten Berlins zu entdecken, das Hoffnung macht und an dem wir weiter arbeiten müssen.
Ein Bericht von Lisa Paus.
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